Über das Diesseits und das Jenseits – Übersetzung und Kommentar zu der „Abhandlung über die Voll­kommenheit“ von Allamah Sayyid Muhammad Husain Tabatabai, Teil 3[1]

Dr. Mahdi Esfahani

17. Die Nachlässigkeit gegenüber dem, was jetzt existiert

 „Sie kennen nur das Äußerliche vom diesseitigen Leben, während sie dem Jenseits gegenüber aber gänzlich achtlos sind.“[2] Dieser Vers macht uns auf die feine Unterscheidung aufmerksam, dass hinter der bloßen Äußerlichkeit des Diesseits gleichzeitig etwas anderes existiert und dass dies das Jenseits ist, weil ihm die eigentliche Nachlässigkeit zukommt. So kann man dies beispielsweise auch aus den Worten entnehmen, die du zu deinem Freund sagst: „Du hast wirklich nur das Äußerliche meiner Worte verstanden und das andere hast du völlig außer Acht gelassen.“ Deine Aussage darüber weist darauf hin, dass das, was vernachlässigt wurde und als das Andere bezeichnet wurde, eben genau der innere Sinn bzw. die tiefere Bedeutung der Worte war.[3]

Zur Wortfamilie des Verbs „ ša-‛a-ra“ (شعر) gehören zwei Wörter, die sehr häufig gebraucht werden. Das eine ist „ša‛r“ (الشَعر), was „Haar“ bedeutet und das andere ist „ši‛r“ (الشِعر), was Dichtung, Poesie und auch Wissen bedeutet.  Einen Dichter nennt man „šā‛ir“ (الشاعر), weil er haarfein mit Worten umzugehen weiß. Er denkt über die haarfeinen Nuancen und Bedeutungen der einzelnen Worte nach, bevor er sie in seiner Dichtung zur Anwendung bringt. Das oben angewandte Verb (یَشعُرُ) deutet also auf haarfeine Spuren hin bzw., wie oben übersetzt, auf eine feine Unterscheidung. Zur Verdeutlichung: Ist jemand beispielsweise unhöflich oder benimmt sich fremdartig, so sagt man im Arabischen: „lā šu‛ūr lahu“ (لاشعور له), weil er eben nicht die feinen Unterschiede versteht und aus diesem Grund unachtsam handelt. So findet sich in dem oben verwendeten Ausdruck „al-āyatu taš‛aru“ (الآیة تشعر) eben der Hinweis auf eine feine Unterscheidung bzw. führt der Vers uns auf haarfeine Spuren eines Verständnisses, dass der diesseitigen Welt „addunyā“ (الدنیا) gleichzeitig eine tiefere Bedeutung, eine andere Dimension, innewohnt, welche eben das Jenseits „alāḫira“ (آلاخره) ist. Diesen Aspekt kann man verstehen, wenn man sich von einer rein äußerlichen Betrachtungsweise loslöst und sich auf die Spur macht, dem Inneren der Dinge nachzugehen. An dieser Stelle ist es nun wichtig, darauf einzugehen, wie Allamah Tabatabai die Beziehung zwischen „alāḫira“ (آلاخره) und „addunyā“ (الدنیا) versteht und beschreibt. Dies ist vor allem maßgeblich für die Koranexegese, für das Verständnis des Islam im Allgemeinen und speziell auch für das Verständnis von „alāḫira“ (آلاخره) an sich.

Meist wird das Jenseits „alāḫira“ (آلاخره) in einem zeitlichen Zusammenhang betrachtet oder besser gesagt mit einer in der Zukunft liegenden nachweltlichen Wirklichkeit in Verbindung gebracht, welche am Ende der Zeiten in Erscheinung treten wird. Der zeitlichen Abfolge nach erfolgt am Ende unseres Lebens der Tod, daraufhin treten wir in den Bereich des „barzaḫ“ (wörtlich: „Zwischenphase“) ein, also der Zustand, der im Grab erfahren wird, und daraufhin erfolgt die Auferstehung, bei der alle Menschen versammelt werden, ihre Taten auf die Waage kommen, und schließlich entschieden wird, wer ins Paradies eingeht bzw. wer der Hölle anheim fällt. Es zeigt sich also nach dem allgemeinen Verständnis ein zeitlicher Ablauf, an dessen Ende sich das Jenseits (آلاخره) befindet. Allamah Tabatabai geht nun an diesem Punkt einen Schritt weiter, indem er das Jenseits nicht nur als den Endpunkt einer zeitlichen Entwicklung betrachtet, sondern als etwas, was immer schon gleichzeitig existiert hat und mit dem Diesseits verbunden war und ist. Er begründet sein Verständnis, wie oben gesehen, mit dem Koran, der das Jenseits (آلاخره) als eine der diesseitigen Welt (الدنیا) tiefer zugrundeliegenden und als eine gleichzeitig existierende Wirklichkeit begreift. Spricht man also von einem verborgenen Sinn bzw. von einem tieferen Aspekt, der hinter einer Angelegenheit liegt, so ist dieser auch immer gleichzeitig mit der äußerlichen und offenkundigen Erscheinung der Angelegenheit verbunden, auch wenn die zugrunde und tiefer liegende Tatsache nicht sofort erkannt wird. Der äußere wie der innere Sinn sind also im gleichen Moment anwesend, so dass für Allamah Tabatabai „addunyā“ (الدنیا) und „alāḫira“ (الآخره) einmal den äußeren und einmal den inneren Aspekt ein und derselben gleichzeitig stattfindenden Wirklichkeit darstellen. Diese Tatsache kann aber nicht erkannt werden, wenn man nur die äußerliche Wirklichkeit betrachtet und der anderen gegenüber nachlässig (غافل) ist, so wie es uns der Koran mitteilt. Diesen Zusammenhang verdeutlicht uns Allamah Tabatabai durch den Gebrauch des Terms: „la-makānu-l-ġafla“ (لمکان الغفله), der die unterschiedlichen Erkenntnisstufen, die der Mensch haben kann, hervorhebt. Der eine ist achtsam und betrachtet das Diesseits innerhalb des Jenseits, ein anderer vernachlässigt das Jenseits und sieht nur das Äußere des Diesseits, und wiederum ein anderer erwartet das Jenseits erst am Ende der Zeit. „Alāḫira“ (الآخره) bedeutet natürlich das Ende bzw. das am Ende kommende, aber welches Ende ist damit gemeint? Man kann durchaus „addunyā“ (الدنیا) und „alāḫira“ (الآخره) als zusammengehörig und gleichzeitig betrachten, doch wir sind zu unachtsam, so dass das Jenseits als das beschrieben wird, was uns schließlich am Ende erreichen wird. Doch ist dieser Zustand, wie das Beispiel des Eisberges verdeutlicht, auch schon vorher erreichbar, wenn wir darüber genügend achtsam sind, so dass wir nicht erst das Ende abwarten sollten.

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[1] – Bearbeitung und Korrektur der deutschen Textfassung durch Michael Nestler

[2] – Der heilige Qur’an: Sure 30, Vers 7

 -[3] (يَعْلَمُونَ ظَاهِراً مِّنَ الْحَيَاةِ الدُّنْيَا وَهُمْ عَنِ الْآخِرَةِ هُمْ غَافِلُونَ) وهذه الآية تشعر بأنّ للحياة الدنيا شيئاً آخر غير ظاهره، وأنّه هي الآخرة لمكان* الغفلة، كما يستفاد من كلامك تقول لصاحبك: إنّك أخذت بظاهر كلامي وغفلت عن شيء آخر. دلّ قولك هذا على أنّ المغفول عنه باطن الكلام، وهو الشيء الآخر

                                                                                                                                              *Der Begriff (لمکان), wird in diesem Zusammenhang eher mit „weil“ übersetzt als mit „Platz“ oder „Ort“.