Intertextualität als eine Kultur der Verständigung – Das ›Wort‹ bei Hafis und Goethe

Dr. Ali Radjaie

Einleitung

Das Wort ›Kultur‹ im Deutschen und ›Farhang‹ (فرهنگ) im Persischen sind Begriffe, die mit vielen Bedeutungen verbunden sind. Werte von Kulturen werden in der jeweiligen Sprache gefasst und Worte werden zu poetischen Schriften gekleidet und stellen die Werte dessen dar, was Menschen als Träger einer Kultur für sinntragend, charismatisch oder sakral halten. In vielen literarisch-philosophischen Weltanschauungen und Gedankenwelten wird Sprache als »das Haus des Seins«[1] betrachtet. Manche Kundige der Poetik sind der Auffassung, dass »je höher die Kultur, desto reicher die Sprache«[2] sei. Sprachbewältigung gilt auch als göttliche Gabe. Pflege des Geistes und der Sprache gilt bei allen Völkern als die Kultur überhaupt. Nach Immanuel Kant (1724-1804) ist »der Mensch als kulturschaffendes Wesen« zu betrachten, der nach »Maximen« greift, um seine moralischen Fähigkeiten hervorzuheben.[3]

Alle Literaturen der Welt beschäftigen sich damit, das Wort prägnant und effektiv zu handhaben. Dichter haben stets versucht, durch Formulierungen, poetisch-kunstvolle Wortspiele, phantasievolle Stoffe und einprägsame Motive Interesse und Wohlgefallen beim Publikum zu erwecken. In einer auserwählten Formulierung werden wichtige Themen des menschlichen Lebens dargeboten. Neben der Stilistik gelten geistige Bildung und Vollendung des menschlichen Charakters als ein Hauptsignum des Literatur- und Kulturbetriebs.

Bei näherem Hinsehen ist Literatur eine übergreifende geistige Kultureinheit, die bei allen Völkern Gültigkeit besitzt. Das geistige Wirken jedes Volkes wird anderen Völkern durch Kulturtransfer und Dialog vermittelt. Mit Hilfe von Kommunikation wird versucht, Gegenpositionen zu verstehen, sie zu respektieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Standpunkte frei zu äußern. Auf den eigenen Standpunkt oder gar Vorurteile zu verzichten, Gegenargumente wahrzunehmen, sie ehrlich zu interpretieren und Abwehrreaktionen zu mildern ist eine tolerante Haltung, die zu gegenseitigem ›Vertrauen‹ führen kann. Jeder Dialog ist eine innere ›Hinwendung‹ zum Partner, ein Mittel, um einanderen näher zu kommen oder um Vorurteile abzubauen und zwischenmenschliche Verständigung zum gewünschten Ziel zu bringen.

In diesem Sinne wird zwischen den Literaturen verschiedener Kulturen und Generationen seit Jahrtausenden ein interkultureller und intertextueller Dialog geführt. Moderne Begriffe zur Bezeichnung dieses Phänomens sind die Begriffe ›Intertextualität‹ und ›Hypertext‹. Ein Dichter nimmt in sein Werk ein Zitat oder auch nur einen bloßen Verweis auf das Werk eines anderen Dichters auf, dadurch schwingen Konnotationen zu dem gesamten Werk dieses Dichters mit. In den modernen Medien kommen häufiger Hypertexte zum Einsatz, um einer Botschaft Tiefe zu verleihen.

Zur Analyse früher intertextueller und interkultureller Bezüge bietet sich in besonderem Maße die Betrachtung zweier klassischer Dichter an, des persischen Dichter Hafis (1320-1389) und des deutschen Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832).

Hafis betrachtet die Welt und ihre Geschehnisse von einer übergeordneten Perspektive aus und lässt seinen Genius über alles gleiten. Fernere Horizonte scheinen ihm nahe zu sein und eine Raum- und Zeitüberlegenheit des Wortes und der Gedanken machen ihn und seine Dichtung unsterblich. Goethes Hinwendung zum Orient, insbesondere zum Werk des Hafis, ist Zeugnis einer tiefgründigen interkulturellen und interreligiösen Kommunikation. Insbesondere Goethes 1819 erschienener ›West-östlicher Divan‹ hatte eine überaus anregende Wirkung auf die gesamte zukünftige abendländische Orientforschung.[4]

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[1]     Heidegger, Martin: Holzwege, in: Gesamtausgabe Bd., 5, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Stuttgart 2003, S. 310.

[2]     Tschechow, Anton Pawlowitsch: Weltbekannter, russischer Dichter, Briefe, 12. Oktober 1892.

[3]     Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems, Akademie-Ausgabe Bd. 10, Berlin 1923, S. 387. Vgl. auch Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Akademie-Ausgabe Bd. 8, Berlin 1923, S. 26.

[4]     Mommsen, Katharina: Goethes Bild vom Orient, in: Der Orient in der Forschung, hrsg. v. W. Hoenerbach, Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1967, S. 453.