Hafis in der Ukraine – Ahatanhel Juchymovyč Kryms’kyj und seine ukrainischen Übersetzungen aus dem Diwan des Hafis
Prof. Dr. Roland Pietsch
Ahatanhel Juchymovyč Kryms’kyj war einer der bedeutendsten ukrainischen Gelehrten und Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, der in seinem Leben und Wirken ungewöhnlich weitgreifende wissenschaftliche Interessen miteinander vereint hat. Er war Orientalist und als solcher Arabist, Iranist und Turkologe; zugleich war er Slawist, der besonders die ukrainische Sprache erforscht hat. Darüber hinaus war er ein bedeutender ukrainischer Schriftsteller und Dichter, der seinen Landsleuten mit seinen wissenschaftlichen Werken und durch seine Übersetzungen arabischer, persischer und türkischer Dichter die Welt des Nahen und Mittleren Ostens geistig erschlossen hat. Dieser Aufbruch in andere Kulturen war das Sich-Einlassen auf die Dialektik des Eigenen mit dem Fremden und des Fremden mit dem Eigenen. Diese Dialektik bildet das Grundgesetz aller wirklichen Kultur-Begegnungen, die im Wesentlichen darin bestehen, dass die Aneignung und damit das Verstehen der eigenen Kultur in ihrer Ursprünglichkeit erst durch die Begegnung mit fremden Kulturen möglich wird[1]. Kryms’kyj hat einem seiner wichtigsten Werke, in welchem er eigene Dichtungen und Übersetzungen persischer Gedichte veröffentlicht hat, den Titel Palmblätter. Exotische Dichtungen (Pal’move hillja. Ekzotyčni poeziï) gegeben. Die aus dem Persischen fremden[2] übersetzten Gedichte sind hier wirklich zu eigenen ukrainischen Dichtungen geworden.
Im Folgenden wird die „ukrainische Aneignung“ der Gedichte aus dem Diwan des Hafis, die Kryms’kyj auch als „Lieder“ bezeichnet hat, in Umrissen aufgezeigt. Zuvor wird ein kurzer Überblick über Leben und Werk des großen ukrainischen Gelehrten und Dichters gegeben.
Leben und Werk
Ahatanhel Juchymovyč Kryms’kyj wurde am 15. (3.) Januar 1871 als Sohn des Gymnasiallehrers Juchym Stepanovyč und seiner Mutter Adelaida Matviivna (geb. Sydorovyč) in Volodymyr-Wolyns’kyj in Wolhynien in der Ukraine geboren. Der Name Kryms’kyj weist auf die krimtatarische Wurzeln der Familie hin. Kurze Zeit nach seiner Geburt zog die Familie nach Zvenihorodka, wo Ahatanhel von 1876 bis 1881 die Städtische Schule besuchte. Anschließend wurde er von seinem Vater auf das Protogymnasium in Ostroh geschickt und 1884 auf das Zweite Kiewer Gymnasium. Ein Jahr später wurde er in das angesehene Pavlo-Galagan-Kollegium in Kiew aufgenommen, wo er 1889 seine Abschlussprüfungen ablegen konnte. Hier wurde auch sein Interesse an den ukrainischen Sprache und Kultur geweckt. 1889 trat er in das Lazarewskij-Institut für orientalische Sprachen in Moskau ein, wo er neben Persisch und Türkisch vor allem Arabisch studierte. Nach Beendigung seiner Studien an diesem Institut blieb er am Lehrstuhl für arabische Philologie, um sich auf eine Professur vorzubereiten. Zugleich setzte er seine Studien an der Historisch-Philologischen Fakultät der Moskauer Universität fort, wo er Vorlesungen in slawische Philologie und Weltgeschichte belegte. 1896 legte Kryms’kyj seine Magisterprüfungen in Arabistik an der Peterburger Universität und in Slawistik an der Moskauer Universität ab. Im selben Jahr unternahm er eine Studienreise nach Syrien und in den Libanon mit dem Ziel, seine Arabisch-Kenntnisse zu vervollkommnen und arabische Handschriften lesen zu können. Nach seiner Rückkehr im Jahr 1898 sollte er seine Dissertation schreiben, die er in St. Petersburg bei dem führenden Orientalisten Baron Viktor von Rosen (1849-1908), einem Schüler des berühmten deutschen Orientalisten Heinrich Leberecht Fleischer (1801-1888) verteidigen wollte, um anschließend den Lehrstuhl für Arabistik am Lazarewskij-Institut zu übernehmen. Der Lehrstuhl war aber inzwischen anderweitig besetzt worden. Von 1898 bis 1900 hielt Kryms’kyj als Privatdozent Vorlesungen am Lazarewskij-Institut unter anderem über die Geschichte der semitischen Sprachen und über arabische Literatur und Poesie. Im Jahr 1901 wurde er zum ständigen Sekretär der Orientalischen Kommission der Moskauer Archäologischen Gesellschaft gewählt. Im selben Jahr wurde er am Lazarewskij-Institut zum außerordentlichen Professor für arabische Literatur und 1902 zum außerordentlichen Professor für die Geschichte des islamischen Ostens und anschließend zum ordentlichen Professor für beide Disziplinen ernannt. Im Verlauf und im Zusammenhang mit dieser Lehrtätigkeit entstanden zahlreiche grundlegende Werke zur Arabistik, Iranistik, Turkologie und Slawistik, die als Handreichungen für Studenten gedacht waren und zum großen Teil mit entsprechenden Ergänzungen mehrfach aufgelegt wurden: Der Islam und seine Zukunft (Musul’manstvo i ego buduščnost‘), Moskau 1899; Arsakiden, Sassaniden und die Eroberung des Iran durch die Araber (Arzakidy, sasanidy i zavovanie Irana arabami), Moskau 1900; Geschichte Persiens, seiner Literatur und Derwisch- Theosophie (Istorija Persii, eë literatury i dervišeskoj teosofii), Moskau 1901 – 19015; Quellen zur Geschichte Mohammeds und die Literatur über ihn (Istočniki dlja istorii Mochammeda i literatura o nem), Moskau 1902; Vorlesungen über den Koran (Lekcii po koranu), Moskau 1902. Leo Tolstoi hat von diesem Buch gesagt, dass er „den Koran immer nur an Hand von Krymski studiert“ habe[3]. Weitere Veröffentlichungen waren seine Ukrainische Grammatik (Ukrainskaja grammatika), Kiew 1907; Die Geschichte der Türkei und ihrer Literatur von der Blüte bis zm Beginn des Zerfalls (Istorija Turcii i eë literatury ot pascveta do načala upadka), Moskau 1910; Arabische Literatur (Arabskaja literatura), Moskau 1911 und Die Geschichte der Araber und der arabischen Literatur (Istorija arabov i arabskoj literatury), Moskau 1911. Dazu kommen zahlreiche Beiträge für das Enzyklopädische Wörterbuch Brockhaus-Efron (Enciklopedičeskij slovar’Brokgauza i Efron). Außerdem hat Kryms’kyj während seiner Moskauer Jahre zahlreiche arabische, persische, türkische, deutsche, französische, englische und spanische Gedichte ins Russische und Ukrainische übersetzt sowie eigene Gedichte, Erzählungen und Romane in ukrainischer Sprache verfasst und veröffentlicht.
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[1] Vgl. dazu Roland Pietsch, Wanderschaft und Heimkehr. Martin Heidegger – Wege zur eigenen Kultur, in: Europäische Kulturzeitschrift Sudetenland, München 2002, S. 130-143.
[2] Fremd oder fremdländisch heißt auf Griechisch exotikos.
[3] I. J. Kratschkowski, Die russische Arabistik. Umrisse ihrer Entwicklung, Leipzig 1957, S. 164.