Die Sprache von „i‛tibārāt“ – Übersetzung und Kommentar zu der „Abhandlung über die Voll­kommenheit“ von Allamah Sayyid Muhammad Husain Tabatabai, Teil 2

Dr. Mahdi Esfahani

10. Die Sprache von „i‛tibārāt

Und ferner gilt, dass alles, wovon die Religion spricht, was sie verdeut­licht und erklärt, über die Wissensgebiete, die den Schöpfungsbeginn betreffen und die Wahrheiten und Erkenntnisse, welche die Welt nach dem Tod beschreiben, all dies erfolgt in Sprache von „i‛tibār“; aufrich­tige Nachdenken bezeugt diese Gedanke. Aber da, wo es nicht den Um­stand des gesellschaftlichen Zusammenseins gibt und somit auch keine (notwendige) Zusammenarbeit bzw. Hilfestellung,  in dem es keinen Raum für Vorschriften und Gesetze gibt, die ja erst mittels der Sprache von „i‛tibār“ eingeführt wurden, da gibt es dann andere Wahrheiten, die durch diese Sprache zum Vorschein gebracht werden, und ebenso verhält es sich mit dem Zustand der religiösen Gesetze. Mit anderen Worten ausgedrückt: all das, was vor diesem gesellschaftlischen Zustand gab, d.h. alle Welten bevor Existenz des Menschen als soziales Wesen, und das, was dem Menschen nach der Gesellschaftlischen Zustand in den Welten nach dem Tod begegnen wird, also da, wo es im Wesentlichen keine Gesellschaft gibt, da existieren überhaupt keine „i‛tibār“.[2]

Allamah Tabatabai spricht hier von der „Sprache von i‛tibār“, während er zuvor aber nur von „i‛tibār“ an sich gesprochen hat. In diesem Kapitel soll aufgezeigt werden, was Allamah Tabatabai unter der „Sprache von i‛tibār“ versteht. Der Ausdruck „die Sprache von i‛tibār“ ist dabei sehr wichtig und deutet zugleich auf den Kern des ersten Kapitels hin.

Bisher hat Allamah Tabatabai „i‛tibār“ definiert und gesagt, dass es ohne eine Gesellschaft auch kein „i‛tibār“ geben kann. Bevor wir in diese Welt kamen, gab es kein „i‛tibār“, und wenn wir diese Welt verlassen, wird es ebenfalls kein „i‛tibār“ mehr geben (weil es in beiden Fällen keine Gesellschaft gibt). Aber zwischen diesen beiden jenseitigen Zu­ständen existiert „i‛tibār“ sehr wohl.

Der Koran und die Überlieferungen sprechen ebenfalls von „i‛tibār“, welches wir mit Hilfe unseres Intellekts erfassen. So teilt uns Gott bei­spielsweise im Koran in der Sure al-fātiḥa, Vers 3 mit, dass er der Besitzer des Tages ist, welcher der „Tag der Religion“ مالک یوم الدین) [3]) genannt wird. Er bezeichnet sich hier also als Besitzer („mālik“ (المالک)). Was ist nun unter dem Begriff „Besitzer“ bzw. „Besitztum“ zu verste­hen? Als ein Mensch, der der arabischen Sprache mächtig ist, sollte der Begriff „Besitztum“ durch die jeweiligen Lebenserfahrungen verstanden werden, welche durch „i‛tibār“ existieren, woraus sich dann auch das Verständnis für das „Besitzersein“ Gottes ergibt. Und genau diesen As­pekt möchte Allamah  Tabatabai verdeutlichen, wenn er sagt, dass die Religion mit uns durch „i‛tibār“ spricht. Die Religion sagt uns, dass Gott der Eigentümer ist, und für uns ist „Eigentum“ „i‛tibār“, so dass sich daraus die Tatsache ergibt, dass die Religion durch eine Form von „i‛tibār“ spricht.

Ein Kind zum Beispiel hat keine Vorstellung vom Besitztum Gottes. Im Laufe seines Lebens entwickelt es erst ein Verständnis von Besitztum an sich, indem ihm gezeigt wird, was ihm gehört, z. B eine Hose, ein Spiel­zeug usw. und gleichzeitig lernt es, was ihm nicht gehört. Geht bei­spielsweise ein Kind ein anderes besuchen, so wird ihm erklärt, dass es keine fremden Spielzeuge mitnehmen bzw. beschädigen darf. So lernt es ein Verständnis für Eigentum zu entwickeln und gleichzeitig erlernt es die Sprache von „i‛tibār“, so dass es weiß, was ihm gehört und was nicht. Einen weiteren Aspekt von „Besitztum“ erfährt das Kind, wenn Ge­schwister hinzu kommen und es Spielzeug, welches es vorher als sein persönliches Eigentum wahrgenommen hat, mit dem Bruder oder der Schwester teilen muss. Das Spielzeug, von dem es vorher gesagt hat: „Das gehört mir“, gehört nun doch nicht mehr ihm allein, woraus sich dann im Kind die Erfahrung entwickelt, das Besitztum unter gewissen Umständen nichts Statisches bzw. nichts Sicheres bedeuten kann. Das Kind muss dies verstehen und lernen, damit umzugehen, so dass daraus ein Verständnis für „Eigentümersein“ entsteht. Das „Eigentümersein“ an sich hat seine Wurzeln im Göttlichen, doch das begreift das Kind noch nicht. Kinder erfahren das „Eigentümersein“ über „i‛tibār“. Dieses Ver­ständnis vom Eigentümersein bildet später wiederum die Voraussetzung und Grundlage, auf der wir dann unser Verständnis vom Eigentümersein Gottes entwickeln können, welches uns durch die Verse des Korans bzw. durch die religiöse Sprache der Überlieferungen vermittelt wird. Viele der Worte, die im religiösen Kontext verwendet werden, beruhen auch auf „i‛tibār“. Und da eben die religiöse Sprache durchmischt von „i‛tibār“ ist, betont Allamah Tabatabai besonders, dass es für ein richti­ges Verständnis der religiösen Überlieferungen von großer Wichtigkeit ist, sich mit dem Wesen von  „i‛tibār“ und dessen Wirkungsweise auf die menschliche bzw. religiöse Sprache auseinander zu setzen.

Die Sprache von „i‛tibārāt“  – Übersetzung und Kommentar zu der „Abhandlung über die Voll­kommenheit“ von Allamah Sayyid Muhammad Husain Tabatabai, Teil 2


[1] – Bearbeitung und Korrektur der deutschen Textfassung durch Michael Nestler

[2]– ثمّ إنّ ما تعرّض لبيانه وشرحه الدينُ، من المعارف المتعلّقة بالمبدأ، ومن الأحكام والمعارف المتعلقة بما بعد هذه النشأة الدنيويّة، كلّ ذلك بيان بلسان الاعتبار ؛يشهد بذلك التأمّل الصادق. وحيث لا ظرف اجتماع ولا تعاون في غير ظرف الأحكام، وقد أُدّيت بلسان الاعتبار، فهناك حقائق أُخر مبنيّة بهذا اللسان، وكذلك مرحلة الأحكام. وبعبارةٍ أُخرى: ما قبل هذه النشأة الاجتماعيّة من العوالم السابقة على وجود الإنسان الاجتماعي، وما بعد نشأة الاجتماع ممّا يستقبله الإنسان من العوالم بعد الموت، حيث لا اجتماع مدنيّاً فيها، لا وجود لهذه المعاني الاعتباريّة فيها البتّة.

[3] – Dieser Vers wird normalerweise mit dem Ausdruck „Herrscher am Tage des Gerichts“ übersetzt. Das Wort „ad-dīn“ (الدین) bedeutet aber nicht Gericht, so dass hier eine sinngemäße Übersetzung zugrunde liegt, die eine Angleichung an den Ausdruck „das jüngste Gericht“ sucht, jedoch die ursprüngliche Bedeutung verfälscht.