Aspekte des imamitischen Schiismus und seiner Auswir­kungen in Geschichte und Gegenwart Irans*, Teil 2

Dr. Thomas Ogger

Teil 2 der Magisterarbeit von Thomas Ogger aus dem Jahre 1980.

Dr. Thomas Ogger hat uns diese von ihm geringfügig überarbeitete Arbeit freundlicherweise zur Verfügung gestellt, da er – wie auch wir – der Meinung ist, dass das Thema der Arbeit für das Verständnis der Vorgeschichte der Islamischen Republik Iran von Belang sei. Die Redaktion

Fortsetzung von Heft 1 – 2013

Inhaltsübersicht

B. Der imamitische Schiismus in der Auseinandersetzung mit anderen islami­schen Herrschaftstheorien und Geistesströmungen

–        Die Begriffe Sunnismus (at-tasannun) und Schiismus (at-tašayyu‘)

–        Kalifats- und Imamatstheorien

–        Einige Anmerkungen zum Gebrauch von Kalifat und Imamat

–        Die sunnitische Auffassung

–        Die charidschitische Auffassung

–        Die schiitische Auffassung unter besonderer Berücksichtigung der Imāmīya

–        Der imamitische Schiismus und die mu‘tazilitische Lehre

–        Ansichten verschiedener Autoren über die islamische Herrschaft

–        Al-Bāqillānī (11. Jahrhundert) über das Imamat

–        Der Standpunkt von al-Māwardī (11. Jahrh.)

–        Der Standpunkt von Neẓāmī-e ‘Arūżī (11./12. Jh.)

–        Die Theorie al-Ġazālīs (gest. 1111)

–        Die Ansicht von Ibn Ḫaldūn

–        Ansichten weiterer Autoren

–        Die Schrift Welāyat-e faqīh – ḥokūmat-e eslāmī (Die Statthalterschaft des Rechtsgelehrten – die islamische Herrschaft) von Rūḥollāh al-Mūsawī  al-Ḫomeynī

Der imamitische Schiismus in der Auseinandersetzung mit anderen islamischen Herrschaftstheorien und Geistesströmungen

Die Begriffe Sunnismus (at-tasannun) und Schiismus (at-tašayyu‘)

Auf die geschichtlichen Ursprünge des Schiismus wurde bereits hinge­wiesen. Diesen Begriff in Analogie zum Sunnismus zu setzen, birgt ge­wisse Missverständnisse in sich.

Der Begriff Sunnismus leitet sich von as-sunna[2] ab, was bedeutet, dass sich die Anhänger dieser islamischen Ausrichtung als diejenigen be­trachten, die sich nach der Überlieferung des Propheten richten. Doch erheben die Schiiten ebenfalls diesen Anspruch, indem sie noch weiter­gehen und argumentieren, dass sie als Anhänger der Familie des ‘Alī ibn Abī Ṭālib, somit der Familie des Propheten Muḥammad, eher einer Sunna entsprächen als die Sunniten, da sich diese nach dem Schiedsge­richt zwischen ‘Alī und dem Umayyaden Mu‘āwīya für Letzteren ent­schieden hätten. Somit gelten die Schiiten durchaus als die »islamischen Legitimisten«.

Der Begriff sunna wird somit von beiden Gruppierungen gleichermaßen in Anspruch genommen, weil er sowohl im Koran als auch in den Ḥadīṯen[3], auf die sich die Gesamtheit der Muslime bezieht, in Gebrauch ist. Beispielsweise bedeutet in der Sure 33,38 sunnat Allāh die Vorrechte, die Gott den früheren, vor Muḥammad existierenden Propheten zuer­kannt hat.[4] Dagegen wird in den Ḥadīṯen unter sunna hauptsächlich die Sunna Muḥammads verstanden, indem Gott durch das Buch, Muḥammad durch die Sunna mit der Gemeinde verbunden seien.[5]

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[1]    Magisterarbeit im Fach Iranistik der Freien Universität Berlin (1980).

[2]    as-sunna, pl. as-sunan = Überlieferung, Brauch, Tradition

[3]    ḥadīṯ, pl. aḥādīṯ = überlieferte Aussagen des Propheten und der ersten Kalifen

[4]    Weitere Belegstellen für sunna im Koran s. Handwörterbuch des Islam, S. 704.

[5]     Nach Muslim, Īmān (»… das Buch Allāhs und die Sunna eures Propheten«) – s. Handwörterbuch d. Islam, S. 704.