Sind westliche Menschenrechtsvorstellungen mit dem Koran vereinbar?

Prof. Dr. Abdoljavad Falaturi

1. Einführung in die Thematik

Ich möchte mit einem Zitat aus dem Buch Menschenrechte, Bd. 1: „Historische Aspekte“, S. 7, erschienen im Colloquium Verlag Berlin 1981, beginnen:

„Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte umfasst eine Prä­ambel und 29 Artikel und wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündet. Ihre Grund­sätze formulieren Verbote, wie etwa das der Diskriminierung, der Sklaverei oder der Folter, und Rechte, wie das auf Leben und Frei­heit, auf Gleichheit vor dem Gesetz, auf die Freiheitssphäre des Einzelnen, auf Freizügigkeit, Auswanderungsfreiheit und Asyl­recht, auf Gewährleistung des Eigentums, auf Freiheit des Gewis­sens, der Religion, der Meinung und der Information, oder etwa die Rechte auf soziale Sicherheit, Arbeit, Erholung und Freizeit und den Anspruch auf eine angemessene Sozial- und Individualord­nung.

Dennoch: Was seit über 30 Jahren offiziell anerkannter Bestandteil globaler Regelung menschlichen Zusammenlebens ist, wird heute in vielen Regionen der Welt in der Praxis verletzt, missachtet oder nicht zur Kenntnis genommen. Erst seit Beginn der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki 1972 und insbesondere seit den Menschenrechts-Appellen des ame­rikanischen Präsidenten Carter ist die Verwirklichung der Men­schenrechte weltweit zum Thema der Diskussion geworden: einer Diskussion, die keineswegs überall öffentlich so geführt werden kann, wie es der Artikel 19 (Recht auf freie Meinungsäußerung) fordert.“

Die Deklaration der Menschenrechte geht zurück auf die „Erklä­rung der Menschen- und Bürgerrechte“ vom 26. August 1798 in Paris.

Die Pariser Menschenrechtserklärung bildet ihrerseits den Höhe­punkt eines jahrhundertelangen Prozesses, der sich auf gesell­schaftlicher, politischer, kirchlicher und philosophischer Ebene im Abendland abgespielt hat; ein Prozess, der bereits vor der Pariser Erklärung in den Jahren 1628/29 in England und im Jahre 1776 in Amerika in Form der „Bill of Rights“ praktische Gestalt angenom­men hat. Dennoch war es die Pariser Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die „am schärfsten die Zäsur zwischen dem Zeitalter des Vorfeudalismus und Absolutismus — und dem Zeitalter der sogenannten bürgerlichen Revolutionen und der beginnenden Demo­kratie“ markiert hat (vgl. ebd., S. 111).

So einmalig diese geschichtemachende Errungenschaft für die Menschheit war und ist, so hat man sie paradoxerweise „für die Exzesse der blutigen Revolutionen der Jahre 1792 bis 1794 — die Septembermorde, die Hinrichtung des Königspaares und vor allem den Terror mit der Denunzierung als Bürgerpflicht und der Mas­senhinrichtung Andersdenkender als System — …im Deutschland des Ancien régime wie im Frankreich des Thermidor und Direc­toire“ verantwortlich gemacht. (Ebd., S. 111 f.)

Belastet ist die Menschenrechtserklärung noch mit einem größeren, bis heute nicht überwundenen historischen Widerspruch. Die bei­den ersten Artikel lauten nämlich:

Artikel 1:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten gebo­ren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einan­der im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Artikel 2:

Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkünde­ten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler und sozialer Herkunft, nach Eigen­tum, Geburt oder sonstigen Umständen …

Im Widerspruch dazu waren es gerade die Erben der Vorkämpfer für die Menschenrechte, die in brutalster Weise im 19. Jahrhundert andere Völker unterworfen, versklavt, entwürdigt und entrechtet haben. Man denke an die französische Hegemonie in Nordafrika und Asien mit ihren Fremdenlegionen und an die skrupellose engli­sche Kolonialherrschaft um jeden Preis. Nicht nur die französi­schen und englischen Machthaber, sondern auch viele andere, von den Deklarationen der Menschenrechte begeisterte europäische und amerikanische führende Persönlichkeiten haben — sogar teilweise im Namen der Menschenrechte — diese im Umgang mit anderen Völkern mit Füßen getreten. Die Missachtung der Rechte der Men­schen in der übrigen Welt verriet — und verrät immer noch diffe­renzierende Auffassungen über Menschen; diese Unterschiede spiegeln sich in der westlichen Politik vor und nach der französi­schen Deklaration der Menschenrechte bis heute wider. Es scheint sich dabei um zwei Kategorien von Menschen gehandelt zu haben und noch zu handeln: Menschen, die von der Menschenrechtsde­klaration erfasst sind (die Angehörigen der westlichen Zivilisation), und Menschen, die nicht zu dieser Kategorie gehören (die Mehrheit der Bewohner unseres Planeten; also diejenigen, die heute vor al­lem zur dritten Welt zählen).

Diese faktische Doppeldeutigkeit des Begriffs „Mensch“ über­schattete von Anbeginn diese einmalige Errungenschaft der Menschheitsgeschichte: die Deklaration der Menschenrechte. Sie wurde sogar als ein politisches Instrument missbraucht, das jeweils jeder Machthaber beliebig gegen jeden einsetzte, der ihm nicht ge­nehm war.

Ich werde in meinem Vortrag vom Menschen als Mensch (ohne Einschränkung durch normative Bedingungen wie „gut“, „mora­lisch“ usw.) ausgehen, so wie es der Artikel 1 der Deklaration der Menschenrechte tut.

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