Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ġazālī – seine Lehre von den Stufen des mystischen Pfades

Prof. Dr. Roland Pietsch

Der persische islamische Rechtsgelehrte, Theologe, Philosoph und Mystiker Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ġazālī, der auch als Wieder­beleber des Glaubens (muḥy‘ ad-dīn) bezeichnet wurde und wird, gehört zu den bedeutenden Gestalten der islamischen Welt. In sei­nen zahlreichen Werken hat er auf unterschiedliche Weise den mystischen Pfad im Einklang mit dem heiligen Gesetz (šarī‘a) dar­zustellen vermocht und damit die Verbreitung des Sufitums (taṣawwuf) in weite Kreise gefördert. Wenn in diesem Zusammen­hang für Sufitum auch das Wort „Mystik“ gebraucht wird, dann in dem Sinn, dass sich die islamische Mystik wie jede wahre Mystik unmittelbar auf die Erkenntnis der göttlichen Mysterien bezieht.

Leben und Werk

Abū Ḥāmid bin Muḥammad bin Muḥammad al-Ġazālī (lat. Algazel) wurde 1058/59 (H. 450/51) in Tus, nahe dem heutigen Maschhad in der Provinz Chorasan, als Sohn eines Wollspinners geboren. Drei Jahre vor seiner Geburt hatten die Seldschuken in Bagdad die Herrschaft übernommen. Nach dem frühen Tod des Vaters übernahm der Sufi Jūsof an-Nassāğ die Erziehung von Abū Ḥāmid und dessen jüngeren Bruder Aḥmad. Später studierte Abū Ḥāmid islamisches Recht und Mystik bei Abū ´Alī al-Faramāḏī (gest. 1084), einem Schüler des berühmten Sufimeisters ´Abd-al-Karīm Ibn-Hawāzin al-Qušairī (986-1074) und bei Ḍiyā‘-ad-Dīn al-Ğuwainī (1028-1085), dem damals berühmtesten Gelehrten sei­ner Zeit, der zugleich Leiter der Niẓāmīya-Schule in Nischapur war. Nach dem Tod seines Lehrers al-Ğuwanī ging al-Ġazālī nach al-Mu’askar an den Hof von Niẓām-al-Mulk, den berühmten Staatsmann und Wesir der Seldschukensultane. Von ihm wurde er aufgrund seiner gründlichen Gelehrsamkeit und überzeugenden Beredsamkeit im Jahr 1091 zum Lehrer an der berühmten Hoch­schule Niẓāmīya in Bagdad ernannt, wo sich zahlreiche Schüler um ihn sammelten. Nach vier Jahren Lehrtätigkeit veröffentlichte al-Ġazālī einen objektiv gehaltenen Überblick über die wichtigsten philosophischen Lehren von Ibn Sīnā und anderen Philosophen unter dem Titel „Die Absichten der Philosophen (maqāṣid falāsifa)“[1], um sich dann ein Jahr später in einem weiteren Werk „Der innere Widerspruch der Philosophen (tahāfut al-falāsifa)“[2] kritisch mit der Philosophie des Aristoteles , al-Fārābīs und vor allem Ibn Sīnās auseinanderzusetzen. Im gleichen Jahr geriet al-Ġazālī in eine schwere geistige Krise, die sein weiteres Leben tief­greifend veränderte. In seiner Autobiographie „Der Erretter aus dem Irrtum (al-munqiḏ min aḍ-ḍalāl) schrieb er darüber: „Darauf­hin betrachtete ich meine eigenen Lebensverhältnisse. Ich fand mich in Bindungen verstrickt, die mich von allen Seiten erfassten. Meine Arbeiten – unter ihnen als beste meine Lehrtätigkeit und der Unterricht – erschienen mir im Hinblick auf den Weg zum Jenseits als Beschäftigung mit unbedeutenden und nutzlosen Wissenschaf­ten. Dann dachte ich über die Intention meiner Lehrtätigkeit nach und befand sie als unrein vor dem erhabenen Gott. Ihr Beweggrund und ihre Motivation waren das Streben nach Ruhm und großem Ansehen. So war ich sicher, an den Rand eines Abgrundes zu ge­raten“[3]. Aufgrund dieser Einsichten verließ al-Ġazālī die Hoch­schule in Bagdad, um sich ganz der Mystik zuzuwenden. Er reiste nach Damaskus, Jerusalem, Hebron und auch nach Mekka. In Jerusalem und Damaskus begann er mit der Abfassung seines mo­numentalen Werkes „Die Wiederbelebung der Wissenschaften von der Religion (Iḥyā‘ ´ulūm ad-dīn)“. Weitere Werke über das Sufitum waren unter anderem „Die Nische der Lichter (miškal-anwār)“, „Der Pfad der Gottesdiener (minhāğ al-´ābīdīn ilā ğannat rabb al-´ālamīn)“, „Das Elixier der Glückseligkeit (Kīmiyā‘ as-sa’āda)“, „O Kind! (ayyuhā al-walad)“, „Der Brief aus Jerusalem (ar-risāla al-qudsiyya) und „Die kostbare Perle im Wissen des Jen­seits (ad-durra al-fāḫira fī kašf ´ulūm al-āḫira)“[4]. Im Jahr 1099 kehrte al-Ġazālī nach Tus zurück und lebte dort in großer Zurück­gezogenheit, bis er auf Bitten von Faḫr-al-Mulk, dem Sohn von Niẓām-al-Mulk, im Jahr 1104 erneut seine Lehrtätigkeit diesmal in der Niẓāmīya von Nischapur aufnahm. Diese Tätigkeit war aber nur von kurzer Dauer und al-Ġazālī kehrte bald wieder nach Tus zurück, wo er sich vollständig der Mystik hingab. Er starb am 18. Dezember 1111 (H. 505) in Tus, wo sich auch sein Grab befindet. Al-Ġazālī hat durch die lateinischen Übersetzungen von einigen seiner Werke auch einen starken Einfluss auf das christliche Mit­telalter ausgeübt, im Besonderen auf Albertus Magnus und Thomas von Aquin[5].

 


[1] Dieses Werk wurde in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts unter dem Ttiel „Logica et philosophia Algazelis“ zum Teil von Dominicus Gundissalinus  ins Lateinische übersetzt.

[2] Die mittelalterliche lateinische Übersetzung dieses Werkes erschien 1328 unter dem Titel „Destructio philosophorum“.

[3] Abū-Ḥāmid Muḥammad al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, Hamburg 2010, 42.

[4] Einen Überblick über al-Ġazālīs Werke bietet: Maurice Bouyges, Essai de Chronologie des Oeuvres de al-Ghazali (Algazel), Beirut 1959.

[5] Vgl. Josef Bach, Des Albertus Magnus Verhältniss zu der Erkenntnislehre der Griechen, Lateiner, Araber und Juden, Wien 1881, 118-122; Albert N. Nader, Éléments de la Philosophie Musulmane Médiévale dans la Pensée de St. Thomas d’Aquin, in: Thomas von Aquin: Werk und Wirkung im Licht neuerer Forschungen, Berlin 1988, 161-174.