Aspekte des imamitischen Schiismus und seiner Auswir­kungen in Geschichte und Gegenwart Irans*, Teil 3 Fortsetzung von Heft 2 – 2013

Dr. Thomas Ogger

Inhaltsübersicht

Mystik und Esoterik im Schiismus

a. Die Auffassung von Suhrawardī (gest. 1191)

b. Gemeinsame Elemente von Sufismus und Schiismus

c. Lehre und politische Haltung der persischen Ismā‘īliten (Assassinen)

d. Die ‘Alī-Verehrung

e. Die Imame als spirituelle Meister und die Begriffe der Walāyat und Welāyat

f. Die Taqīya

g. Politische Ausgestaltungen der Esoterik in neuerer Zeit

Zusammenfassung

a. Der imamitische Schiismus als geistige und politische Herausforderung

b. Politik und Geistigkeit im (imamitischen) Schiismus

Epilog

 

Mystik und Esoterik im Schiismus

Mystik und Esoterik spielen von Anfang an bei allen schiitischen Zweigen eine bestimmende Rolle, wobei sie bei Imamiten, Ismā‘īliten und den Ġulāt[2] in stärkerem Maße zu den tragenden Elementen der religiösen Praxis geworden sind, als beispielsweise bei den Zayditen, die sich in ihren Tendenzen zum Pragmatismus eher dem Sunnitentum, und dort wiederum der mu‘tazilitischen Lehre, nähern.

Wie schon bei den Herrschaftstheorien festzustellen war, bei denen die verschiedenen Verfasser trotz aller reellen Einschätzungen der politischen Wirklichkeit mehr oder weniger für einen Idealstaat plädiert hatten, wird dieser Gedanke bei den Mystikern weitergeführt, indem noch abstrakt erscheinende Begriffe, wie Erleuchtung, Wahrheit und Liebe zu den Fundamenten einer solchen Herrschaft miteinbezogen werden.

Politisch wirkt sich das so aus, dass dem (geistigen) Führer eine besondere Bedeutung zugemessen wird, wobei jegliche andere (weltliche) Macht, die sich nicht mit dem jeweiligen Imam der Zeit in Übereinstimmung befindet, infrage gestellt oder sogar ganz abgelehnt wird.

a. Die Auffassung von Suhrawardī (gest. 1191)

Šihāb ad-Dīn as-Suhrawardī gilt in der Mystik (Sufismus) als »Meister des Išrāq (Illumination)«. Da im Išrāq die Lichtphilosophie Alt-Irans in neuplatonischer Form wieder auflebt, stellt diese Lehre neben dem imamitischen Schiismus einen der wichtigsten und charakteristischsten Aspekte im geistigen Leben des islamischen Persiens dar. Und so stellte Suhrawardī die prophetische Botschaft des vorislamischen Persiens über diese Lichtphilosophie in eine Linie zu den großen semitischen Propheten und integrierte sie dadurch in die islamische Tradition.

In seiner Schrift Ḥikmatu’l-išrāq (Die Weisheit der Erleuchtung) nimmt Suhrawardī einen Standpunkt ein, der weit über den des pragmatischeren Ġazālī hinausgeht. In Suhrawardīs Vorstellung vom Staat müsse die Welt durch Weisheit und Philosophie regiert werden. Der Ausführende dieser Regierung sei der Kalif, der herrschen werde, solange Himmel und Erde bestünden. Im Kalifen selbst hätten die verschiedenen Grade der Philosophie und des theosophischen Wissens die vollständige Meisterschaft erreicht.

In dem Falle, dass es keine entsprechende Person geben sollte, die jenem hohen Anspruch gerecht würde, gehöre diese Auszeichnung dem vollkommenen Theosophen.

Interessanterweise hat Suhrawardī seine philosophischen Ausführungen über das Kalifat in persischer Sprache niedergeschrieben, so dass seine Ansicht über das Imamat der iranischen Mystik einen besonderen Akzent verleiht, was den imamitischen Schiismus in diesem Sprachgebiet nicht unberührt gelassen haben dürfte.

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[1]    Magisterarbeit im Fach Iranistik der Freien Universität Berlin (1980).

[2]             ġulāt, pl. von ġālī = Extremist, Übertreiber – diejenigen, die ‘Alī in »übertriebener« Weise verehren