Die Grundzüge der Tugendlehre von Abū ´Alī Miskawaih

Prof. Dr. Roland Pietsch

Abū ´Alī Miskawaih ist in der islamischen Welt einer der bedeutendsten Vertreter der philosophischen Ethik. Der wichtigste Grundbegriff dieser Ethik ist der Begriff des Guten. Nach Aristoteles ist das Gute das, wo­nach alles strebt[1], demzufolge streben auch alle Menschen nach dem Gu­ten. Für die Menschen ist der Inbegriff alles Guten das Glück oder die Glückseligkeit (sa’ādā), und die Tugend ist dabei jene Grundhaltung der Seele, wodurch das Glück der Menschen verwirklicht werden kann. Be­vor im Folgenden die Tugendlehre Miskawaihs in ihren Grundzügen dar­gestellt wird, werden im Folgenden zunächst einige kurze Angaben über sein Leben und Werk gemacht.

Angaben zu Leben und Werk von Abū ´Alī Miskawaih

Abū ´Alī Miskawaih, dessen voller Name Abū ´Alī Aḥmad ibn Muḥammad ibn Ya’qūb Miskawaih lautet, wurde zwischen 932 und 936 in Raiy in der Nähe des heutigen Teheran geboren. Seine ersten Lebens­jahre verbrachte er in einer Familie, die ursprünglich der zoroastrischen Lehre anhing und dann zum Islam übergetreten war. Später erhielt er eine Ausbildung, die ihn befähigte von 950 bis 983 als Sekretär und Biblio­thekar am schiitischen Bujidenhof in Bagdad und Raiy zu arbeiten. Seine erste Stelle erhielt er bei Al-Muhallabī (950-963), dem bedeutenden We­sir von Emir Mu’izz al-Dawla, der von 945-967 in Bagdad regierte. An­schließend arbeitete er als Sekretär unter Abū l-Faḍl ibn al-´Amīd (951-970), dem Wesir von Rukn ad-Daula, dann unter Abū l-Fatḥ ´Alī ibn Muḥammad (970-976), dem Wesir von ´Aḍud ad-Daula in Raiy und schließlich unter dem König ´Adud ad-Daula (949-983). In den ersten Jahren seiner Tätigkeit als Sekretär studierte er auch bei dem Kadi Aḥmad ibn Kāmil (873-961), einem Schüler des bedeutenden persischen Gelehrten, Historikers und Koranexegeten Abū Ğa’far Muḥammad ibn Ğarīr aṭ-Ṭabarī (839-923), dessen Chronik „Die Geschichte der Prophe­ten und Könige (Aḫbār ar-rusul wa-l-mulūk)“. Dadurch wurde Miska­waih befähigt, seine „Erfahrungen der Völker (Tağārib al-umam)“ zu schreiben. Dieses Werk, das von der frühislamischen Geschichte handelt, widmete er König ´Adud-ad-Daula. Was den Bereich der Philosophie betrifft, so stand er mit zahlreichen Philosophen in Bagdad in Verbin­dung, vor allem mit Abū Sulaimān Muḥammad ibn Ṭāhir ibn Bahrām as-Siğistānī al-Manṭiqī (geb. um 912, gest. um 1000), Abū Ḥaiyān ´Alī ibn Muḥammad ibn ´Abbās at-Tauḥīdī (geb, zwischen 920 und 930, gest. 1023) und mit Ibn al-Ḫammār (942-1017), einem Schüler von Yaḥyā Ibn ´Adī (893-974), der zahlreiche Übersetzungen von Werke des Aristoteles aus dem Syrischen ins Arabische angefertigt hatte.

Abū ´Alī Miskawaih hat eine Reihe von philosophischen Werken über Metaphysik, Ethik sowie Weisheitssprüche verfasst. Zu seinen metaphy­sischen Werken gehören „Die kleineren Schriften über das Glück oder das Gelingen (Al-fauz al-aṣġar)“, „Über den Intellekt und das Intelligible (Kitāb fi l-`aql wa-l-ma’qūl)“, „Abhandlung über Seele und Intellekt (Maqāla fi n-nafs wa-l-`aql)“, „Die Zustände des Geistes (Aḥwāl ar-rūḥ)“, „Abhandlung über die Substanz der Seele (Risāla fi ğauhar an-nafs)“ und „Abhandlung über die Natur (Risāla fi ṭ-Ṭabī’a)“. Seine wich­tigste Schrift zur philosophischen Ethik ist: „Die Verfeinerung der Ethik und die Reinigung der Seele (Tahḏīb al-aḫlāq wa-taṭhīr al-a’rāq)“[2]. Die­ses Werk ist die Grundlage für die folgende Darstellung seiner Tugend­lehre. Ein weiteres Werk zur Ethik ist seine „Abhandlung über das We­sen der Gerechtigkeit (Risāla fī māhiyyat al-`adl)“. Zu seinen Weisheits­schriften gehört die „Ewige Weisheit (arab. Al-ḥikma al-ḫālida, pers. Ğāwīḏān ḫiraḏ)[3]“, eine Sammlung von Weisheitssprüchen in fünf Teilen: 1. Weisheitssprüche der Perser (Ḥikam al-Fars), 2. Weisheitssprüche der Inder (Ḥikam al-Hind)  3. Weisheitssprüche der Araber (Ḥikam al-´Arab),  4. Weisheitssprüche der Römer (Byzantiner) (Ḥikam ar-Rūm) und 5. Weisheiten von islamischen Verfassern der früheren Zeit (Ḥikam al-islāmiyyīn al-muḥdaṯīn). Miskawaih verbrachte seine letzten Jahre in Isfahan und starb hier am 16. Februar 1030[4].

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[1] – Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097 a. Über die Ethik des Aristoteles siehe: Michael Wittmann, Die Ethik des Aristoteles. In ihrer systematischen Einheit und in ihrer geschichtlichen Stellung untersucht, Regensburg 1920.

[2] – Tahḏīb al-aḫlāq wa-taṭhīr al-a‘rāq, Beirut 1966. Im Folgenden abgekürzt: Tahḏīb al-aḫlāq; Englische Übersetzung: The refinement of character. A translation from the Arabic of Aḥmad Amin-Muḥammad Miskawayh’s Tahdhīb al-Akhlāq by Constantine K. Zurayk, Beirut 1968, Französische Übersetzung: Traité d’éthique, traduction francaise avec introduction et notes par Mohammed Arkoun, Damaskus 1969.

[3] – Vgl. dazu : Walter Bruno Henning, Eine arabische Version mittelpersischer Weisheitsschriften, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Bd. 106, 1956, S. 73-77.

[4] –  Über Leben und Werk von Miskawaih: Mohammed Arkoun, Contribution à l’étude de l’humanisme arabe au IVe/Xe siècle. Miskawayh (320/325-421=932/936-1030), philosophe et historien, Paris 1982; Gerhard Endress, Antike Ethik-Traditionen für die islamische Gesellschaft: Abū ´Alī Miskawaih, in: Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 1, 8.-10. Jahrhundert, hrsg. von Ulrich Rudolph, Basel 2012, S. 210-260.