Über ḥaqīqī und i‛tibārī in der islamischen Philosophie – Übersetzung und Kommentar zu der „Abhandlung über die Voll­kommenheit“ von Allamah Sayyid Muhammad Husain Tabatabai, Teil 1

Dr. Mahdi Esfahani

Einführung

Das Buch „Abhandlung über die Vollkommenheit“ (arab. Risālato l-Wilāyah) von Allamah Tabatabai gehört zu den wichtigsten Schriften der Primärliteratur, die im 20. Jahrhundert im Bereich der islamischen Mystik bzw. Philosophie verfasst wurden.

Der Autor dieser Abhandlung, Allamah Sayyid Muhammad Husain Tabatabai, lebte von 1892 bis 1981, und gilt innerhalb des schiitischen Islams als einer der einflussreichsten und hervorragendsten Gelehrtenpersönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts. Seine Gelehrsamkeit umfasste nicht nur die klassisch-islamischen Wissensgebiete wie Theologie, Rechtsprechung, Grammatik, Rhetorik usw., sondern erstreckte sich eben vor allem auch auf den Bereich der islamischen Mystik und Philosophie. Neben seinem Studium der islamischen Quelltexte erforschte er unter anderem auch die heiligen Schriften anderer Glaubensrichtungen, so zum Beispiel Texte aus der Gnosis, die Upanishaden und das Johannesevangelium, und verglich diese mit den Inhalten der islamischen Glaubenstraditionen. Ab 1946 lehrte er in Qum die Auslegung (tafsir) des Heiligen Korans, traditionelle islamische Philosophie und Theosophie und verfasste neben seiner Lehrtätigkeit zahlreiche Schriften und philosophische Handbücher, die bis heute grundlegend und bedeutend für die Lehre an den islamischen Hochschulen sind. Sein wohl bekanntestes und umfangreichstes Werk ist aber die Neuinterpretation des Heiligen Korans mit dem Titel “Tafsir al-Mizan”. Die Besonderheit dieses 20-bändigen Korankommentars besteht darin, dass Allamah Tabatabai den Koran hauptsächlich durch sich selbst erklären lässt, indem er einzelne koranische Verse durch andere erläutert, die miteinander im Sinnzusammenhang stehen. Diese wegweisende Methode macht den “Tafsir al-Mizan” zu einem der wichtigsten Werke innerhalb der Tafsir-Literatur und zeigt die große Bedeutung, die Allamah Tabatabai in und für die islamische Welt bzw. für die islamischen Wissenschaften inne hat.

Im Vergleich dazu fällt die hier vorgestellte “Abhandlung über die Vollkommenheit” von ihrem Umfang her (ca. 60 Seiten) wesentlich geringer aus, und doch bezeichnete Allamah Tabatabai persönlich diese kleine Abhandlung als sein wichtigstes Werk.

Der Titel deutet schon an, worum es in dieser Abhandlung gehen soll. Das Thema der “Wilāyah” und die Frage nach dem Menschen als einem vollkommenen Stellvertreter Gottes auf Erden ist innerhalb der schiitischen Lehre eines der zentralen Themen und wird in dieser Schrift aus einem mystisch-philosophischen Blickwinkel heraus betrachtet. Allamah Tabatabai zeigt auf Grundlage des Korans und zahlreicher islamischer Überlieferungen, dass die Stufe der “Wilāyah” nicht nur als die höchste Stufe der menschlichen Vollkommenheit gilt, sondern dass sie vielmehr Sinn und Zweck der Religion an sich darstellt, die dafür erschaffen wurde, dem Menschen auf dem Weg zu seiner Vollkommenheit behilflich zu sein. Dabei ist es nicht so sehr der äußere Aspekt der Religion, den Allamah Tabatabai betont, als vielmehr die inneren Dimensionen, die auf einen tieferen mystischen Sinn hindeuten und zeigen, dass jede äußere Erscheinung der Religion einen verborgenen, inneren Aspekt besitzt. Allamah Tabatabai gelingt es in seiner “Abhandlung über die Vollkommenheit” neben bzw. anhand der Darstellung des Themas der “Wilāyah” an sich, einen tieferen Einblick in ein mystisch-philosophisches Denken zu geben, das im 20. Jahrhundert seinesgleichen sucht. Hierin liegt auch die Absicht begründet, dieses Werk für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich zu machen, da es als ein zeitgenössisches Dokument islamisch-schiitischer Mystik zeigt, welche Sichtweisen auf Religion in der Moderne innerhalb der islamischen Gelehrsamkeit möglich sind.

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