Annäherung an einen Rechtleitenden

Wolf D. Ahmed Aries

Die Dominanz des Politischen in den deutschen wie europäischen Dis­kussionen zum und über den Islam, hat zu einer Verschattung der Legi­timation Imam Khomeinis geführt, die zutiefst in der Geistesgeschichte des schiitischen Denkens fundiert ist. Das Wort „Imam“ ist keine Funk­tionsbezeichnung gleich der des „Präsidenten“ eines Staatswesens, viel­mehr ist es soziologisch betrachtet, eine Zuschreibung durch Gläubige, die lange Jahre den Angehörigen der Familie des Propheten Mohammed und damit seinem Cousin Ali ibn Abi Talib vorbehalten gewesen ist.

So kennen die schi´itischen Gläubigen zwölf Imame, deren letzter, Mu­hammad al-Mahdi, in die große Verborgenheit getreten ist. Diese Imame waren die geistlichen und gesellschaftlichen Leiter der Gemeinschaft, von denen die Gläubigen glaubten, daß sie die Gemeinschaft recht leite­ten, denn die schiitischen Gläubigen gehen davon aus, daß der Prophet ebenso wie die zwölf Imame durch die Offenbarung, d.h.  durch Qur´an und Sunna, legitimiert wurden. Wer ihnen also folgt, der handelt auf Anordnungen, d.h. auf Rechtleitung Allahs.

Ich darf darauf aufmerksam machen, daß der Begriff der ´Rechtleitung´ kein christlicher ist und eher dem widerspricht, was in den kirchlichen Theologien unter der „Gnadenlehre“ verstanden wird. Die Bibel kennt das Konzept nicht; während der Qur´an an zwei Stellen von der Recht­leitung spricht: zum einen in der Sure zwei ayat 38 und zum anderen in Sure 20 ayat 123.

In beiden Fällen geht es um die Folgen des Bruches des Verbotes, nicht von den Früchten eines bestimmten Baumes zu essen. Auf Grund der Überschreitung verweist der Schöpfer die Menschen des Paradieses und sagt ihnen gleichzeitig Rechtleitung für ihre Verweildauer auf Erden zu. In Sure zwei heißt es ergänzend:

„…. Und jene, die Meiner Rechtleitung folgen, brauchen keine Furcht zu haben, noch sollen sie bekümmert sein; ….“

In Sure zwanzig steht:

„Dennoch wird ganz gewiß Rechtleitung von Mir zu euch kommen: und wer Meiner Rechtleitung folgt, der wird nicht irregehen, und er wird auch nicht unglücklich sein.“

Nun ist die Rechtleitung durch den Qur´an  nicht auf den Text der Offen­barung selber beschränkt worden, sondern umfaßt auch das „schöne Bei­spiel“ des Propheten. Nach muslimischem Verständnis ist damit sein reales Tun und Handeln gemeint, wofür man am ehesten den im zwan­zigsten Jahrhundert geschaffenen religionswissenschaftlichen Begriff der Orthopraxie verwendet. Allerdings geht es für die Muslime nicht um die im Gespräch der Kirchen gemeinte Werkgerechtigkeit im Sinne der neu­testamentlichen Verse von Jakobus bzw. den Theologien der christlich orthodoxen Kirchen.

So betonen Muslime die Hermeneutik der Tat und nicht so sehr die des Wortes, wodurch der Begriff der ´Rechtleitung´ seine besondere Stellung erhält.

Nach dem Tode Mohammeds und Alis fiel den Imamen die Aufgabe der Rechtleitung der Gemeinschaft der Gläubigen zu; als der zwölfte und letzte Imam in die große Verborgenheit getreten war, entwickelte sich im Diskurs der Gelehrten und der schiitischen Gemeinschaft der Gedanke, daß während der Abwesenheit des verborgenen Imames denen, die sich als die Qualifiziertesten erwiesen, die Aufgabe der Rechtleitung zukäme. Dazu konnten sich die Gelehrten auf einen Hadith berufen, in dem der Imam Mahdi die Gläubigen angewiesen hatte in den Zeiten seiner großen Verborgenheit den Rechtsgelehrten zu folgen.

So entstand unter den Gläubigen die Vorstellung, daß sich ein jeder nach diesen „best Wissenden“ richten sollte, was in den Agrargesellschaften früherer Jahrhunderte wohl kaum ein Problem darstellte, weil die Ort­schaften klein und überschaubar waren. Man wußte, welcher Molla sich als qualifizierter Maula, d.h., Lehrer, entwickelte. Soziologisch könnte man von einer sich herausbildenden Funktionselite sprechen, die ihre Legitimation nicht durch ein Examen oder Ernennung erhielt, sondern durch die Zuschreibung der Gläubigen ihrer Umgebung. Nur wenn ein solcher Gelehrter über die Jahre hinweg einen überregionalen Ruf auf­baute, schrieben ihm die Gläubigen zu, ein Zeichen Gottes zu sein, ein Ayatollah.

Es wäre unsinnig, nähme man an, daß diese Entwicklung ohne strittig ausgetragene Differenzen abgelaufen wäre, wesentlich ist jedoch, daß mit der allgemeinen Tendenz zur Zuschreibung Autorität entstand, nach der sich der einzelne Gläubige richtete. Im Laufe der Zeit setzte sich die Vor­stellung durch, daß jeder Gläubige sich an einer solchen Autorität aus­richten sollte.

Mit der Zunahme der Bevölkerung, dem gleichzeitigen Anstieg qualifi­zierter Gelehrter und der Ausdifferenzierung von Sonder- oder Spezial­wissen, begann man unter den Gelehrten zu unterscheiden, was sich nicht nur darin äußerte, daß es einzelnen Gelehrten gelang staatsunabhängige Schulen aufzubauen, die Hauza, für die die Gläubigen den berühmten Fünften abgaben, sondern auch darin, daß eine Hierarchie der Gelehr­samkeit entstand, ohne daß das Prinzip der Zuschreibung in den Hinter­grund getreten wäre. Sie hing weiter davon ab, daß der einzelne Gläubige vom Glaubensleben, den Empfehlungen und Ansichten eines Gelehrten überzeugt wurde. Und es entwickelte sich kein Zwang den Empfehlun­gen eines bestimmten Gelehrten zu folgen; hinzu kam die Auffassung, daß ein Gläubiger sich zwar an einen Mudschtahid binden konnte, wenn dieser jedoch verstarb, er sich an einen anderen Gelehrten wenden mußte.

Der Prozess der Ausdifferenzierung der personalen Gelehrsamkeit fand seinen Abschluß als im 19. Jahrhundert die Gestalt des Mardscha´ at-taq­lid entstand, d.h. eines solchen Gelehrten, der nicht allein die Gläubigen seiner Region überzeugte, sondern über eine große Zahl von Gläubigen wie Gelehrten Anerkennung fand. Ihm wuchs die Aufgabe der Rechtlei­tung in einem solchen Umfange zu, daß man von einem geistlichen Füh­rer sprechen konnte und kann. Verschiedene Gelehrte sahen in dem sich entwickelnden Konzept eines Mardscha at-Taqlid eine Überforderung des betroffenen Gelehrten.

Der erste Gelehrte, Mudschtahid, dem im 19. Jahrhundert die Auszeich­nung Mardscha at-taqalid zugeschrieben wurde, war Mortaza Ansari. Im Verlauf 20. Jahrhundert erwuchsen der Gemeinschaft der Gläubigen acht Mardschas, von denen sieben im Iran wirkten bzw. arbeiten und einer im Irak. Da niemand eine Statistik der Mardschas führt, läßt sich ihre Anzahl stets nur schätzen. Es scheinen jedoch nicht mehr als zehn zu sein.

Im diesem Kontext wuchs die Persönlichkeit Khomeinis heran, d.h. Jahre bevor er eine führende Rolle in der Auseinandersetzung um die Verwest­lichung seines Landes erreichte, war er für zahlreiche schi´itische Mus­lime die Gelehrtenfigur, an der sie sich orientierten. Wie tief  er die Men­schen dabei überzeugte, zeigte eine Anfrage an Khamene´i, die dieser in seine Sammlung vom Urteilen aufnahm.

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